Über Supergrundrechte und einen demokratischen Spagat

Über Supergrundrechte und einen demokratischen Spagat

Es gehe um Leben und Tod, so hatte sich NRW Ministerpräsident Armin Laschet geäußert und damit die harschen Maßnahmen begründet, die die Gesellschaft in einen beispiellosen Lock Down gezwungen haben. Die Maßnahmen mögen angemessen gewesen sein, Deutschland einen Vorsprung in der Pandemie zu verschaffen. Auch ist es sinnvoll gewesen, sich in den politischen Entscheidungen von medizinischen Fachleuten beraten zu lassen. Trotzdem stellt sich mir die Frage, wie es sich mit den Grundrechten in dieser Zeit verhält, und ob das politische Handeln derzeit den demokratischen Grundregeln unseres Grundgesetzes entspricht. Aktuelle Gerichtsentscheidungen, die z.B. das Öffnungsverbot von Läden über 800qm Verkaufsfläche kippen, lassen Zweifel an der Rechtmäßigkeit verschiedener Entscheidungen aufkommen.

Einvernehmliche Entscheidungen von Demokraten sind noch lange keine demokratischen Entscheidungen. Unser Grundgesetz gibt die Spielregeln vor, nach denen demokratische Entscheidungen getroffen und umgesetzt werden dürfen. Wie ich später noch herausarbeiten möchte, erscheint das derzeitige Vorgehen der Politik – so berechtigt man es momentan auch sehen mag – den Weg des Grundgesetzes zu verlassen. Was ist unser Grundgesetz wert, wenn es in einer Krise nicht mehr vollends beachtet wird oder seine Regelungen so weit gedehnt werden, dass es einem Verfassungsrechtler schwummerig werden muss?

Dass es nicht nur wirre Verschwörungstheoretiker sind, die derzeit Zweifel an der Rechtmäßigkeit der einen oder anderen Verordnung haben, lässt sich an zwei einfachen Beispielen festmachen:

  1. Beitrag von Oliver Lepsius. Er lehrt Öffentliches Recht und Verfassungstheorie an der Universität Münster. Ich habe den Beitrag hier auf LinkedIn geteilt.
  2. Ganz aktuell. Urteil des VGH Bayern, der die 800qm-Grenze für Ladenöffnungen verworfen hat: http://www.vgh.bayern.de/media/bayvgh/presse/20a00793b.pdf. Spannenderweise wird hier in den Leitsätzen hervorgehoben, „Je länger die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie fortbestehen, desto mehr spricht dafür, dass sie der Ermächtigung durch ein besonderes förmliches Bundesgesetz bedürfen.“ Im Übrigen wird dort festgestellt, dass § 2 Abs. 4 und 5 2. BayIfSMV gegen Artikel 3 Abs 1 GG verstoßen (Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.)

Es wird derzeit viel über Grundrechte geschrieben. Für die einen ist es der Hebel, um gegen die erlassenen Maßnahmen zu protestieren (ironischerweise gerade von Menschen, die sonst eher nicht so auf dem Boden des Grundgesetzes zu Hause sind.) und für die anderen stehen bestimmte Grundrechte wie z.B. das Recht auf körperliche Unversehrtheit so hoch im Kurs, dass man die anderen Grundrechte gerne mal eben einschränken darf.

Grundrechte sind Schranken. Die Hürden, diese Grundrechte einzuschränken, sind bewußt sehr hoch gesetzt. Die Grundrechte und das Grundgesetz sollen den Bürger vor einem übergriffigen Staat schützen. Dabei gibt es keine Priorität der Grundrechte. Keines der Grundrechte steht über einem anderen und schon Hans-Peter Friedrich (CSU) hat sich 2013 vergeblich um das Supergrundrecht „Sicherheit“ bemüht. Diese Gleichwertigkeit der Grundrechte bringt uns immer wieder in ethische Schwierigkeiten, denen wir nicht entfliehen können. Wer z.B. das Theaterstück „Terror“ von Ferdinand von Schirach gesehen hat, oder sich an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz erinnert, der weiß, dass die Würde des Menschen es nicht erlaubt, Leben gegen Leben zu setzen.

Jetzt wird der eine oder andere aufschreien und sagen, „naja, hier geht es ja nicht um Leben gegen Leben sondern nur um Gesundheit/Leben gegen wirtschaftliche Interessen.“ Aber genau das sehe ich anders. Bitte denken wir an alte Menschen, die der Lebensmut verlässt, weil sie nach 60 Jahren Ehe ihren Ehepartner nicht mehr sehen dürfen und möglicherweise sogar nicht mehr lebend werden antreffen können, sich also nicht einmal verabschieden können. So eine Situation möchte ich mir für mich nicht vorstellen.

Oder denken wir an kranke Menschen, die sich derzeit nicht mehr in die Arztpraxen trauen und notwendige Behandlungen nicht mehr bekommen. Was ist mit psychisch Kranken Menschen, die nicht mehr adäquat behandelt werden oder aus ihrem sozialen Umfeld herausfallen. Was ist mit depressiven Menschen, die wir mit dem sozialen Abstand in den Suizid treiben. Oder andere Menschen, die wir aufgrund der Vernichtung ihres wirtschaftlichen Lebenswerkes krank, möglicherweise depressiv machen und im schlimmsten Fall in den Tod treiben. Sie mögen das vielleicht für übertrieben halten, es ist es aber nicht.

Was ist mit den Kindern, deren Recht auf körperlicher Unversehrtheit gerade mit Füßen getreten werden, weil ihnen im rechten Alter die Sozialisierung mit Gleichaltrigen fehlt, die vielleicht zu Hause unter körperlicher Gewalt durch überforderte Eltern leiden und die derzeit keine Lobby haben? Was ist mit den Bildungschancen unserer Schülerinnen, die aufgrund unseres desolaten Schulsystems gerade den Bach hinunter gehen? Sind diese Menschen nicht alle vor dem Gesetz gleich? (Art 3 Abs 1 GG) Warum müssen diese Menschen ganz konkret leiden, um abstrakt andere Menschen zu retten? Warum darf ich einen entführten Jet mit 100 Leuten an Bord nicht abschießen, um zehntausende im nächstgelegenen Fussballstadion zu retten? Weil das Grundgesetz verbietet, Menschen gegen Menschen auszuspielen. Aber wie weit sind wir davon entfernt?

Um es klar zu sagen, Grundrechte sind nicht absolut und uneingeschränkt. Bestimmte Grundrechte dürfen auf Basis von Gesetzen eingeschränkt werden. Dazu gehört auch das Infektionsschutzgesetz. Dennoch stellt sich die Frage, ob das Gesetz ausreichend ist, so weitreichende Grundrechtseinschränkungen auf dem Verordnungsweg durch die Exekutive auf den Weg zu bringen? Die durch das Infektionsschutzgesetz vorgesehenen Einschränkungen knüpfen allesamt an eine konkrete Vorbedingung, nämlich dass die Person, deren Grundrechte eingeschränkt werden sollen, entweder infiziert oder infektionsverdächtig sein muss. Damit ist es aus meiner Sicht zweifelsfrei möglich, Infizierte und ihre direkten Kontaktpersonen als infektionsverdächtige Personen z.B. in Quarantäne zu stecken, also ihre Freizügigkeit und Freiheit einzuschränken.

Aber reichen diese Kriterien tatsächlich für einen gesellschaftlichen Shutdown aus? Sind diese Kriterien ausreichend, um eine ganze Gesellschaft als infektionsverdächtig darzustellen? Die Legitimation der bisherigen Maßnahmen steht auf einem rechtlich dünnen Eis. Eine Verordnung der Landesregierung muss sich auf das übergeordnete Gesetz beziehen und muss dieses entsprechend zitieren. Das konnte ich z.B. in der Corona-Verordnung des Landes NRW nicht finden. Stellt sich die Frage, ob die Anordnungen damit überhaupt rechtens sind.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, liebe Leser. Ich möchte die Richtigkeit verschiedener Maßnahmen aus einer virologischen oder epidemiologischen Sicht überhaupt nicht anzweifeln und unterstelle auch den handelnden Personen lautere Absichten. Dennoch, die Rechtsstaatlichkeit, der demokratische Prozess und die Einhaltung des Grundgesetzes müssen auch in einer Krise gewährleistet werden. Es gibt keine guten und keine schlechten Krisen. Man stelle sich nur einmal vor, die nächste Krise wäre politisch motiviert. Was ist ein Förderalismus dann noch wert, wenn seitens der Bundesregierung Konformität erwartet wird. Was, wenn Regierungen einfach schalten und walten können und Opposition mit moralischen Argumenten mundtot gemacht wird? Was ist, wenn man Krisen-Apps, die geeignet sind, Menschen zu verfolgen, per Zwang einführt? Unfug, sagen Sie? Dann hören Sie Leuten wie dem Vorsitzenden des Gesundheitsausschusses des Städtetages in NRW einmal gut zu:

In Nordrhein-Westfalen spreche der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses des dortigen Städtetages, Andreas Meyer-Falcke, zudem von Zwangsmitteln, um ein solches Spionage-Programm zu installieren. „Wenn ich das freiwillig mache, okay, aber damit die App wirklich Sinn hat, müsste man die eigentlich verpflichtend machen. Dafür braucht es eine gesetzliche Grundlage, die müsste der Bund schaffen.“ heise-Artikel.

Wolfgang Schäuble hat es sehr treffend formuliert, indem er das Recht auf Gesundheit als absolutes Supergrundrecht in Frage stellte. Es wäre fatal, wenn sich eine Gesellschaft nur noch einem statistischen R-Wert oder einer Neuinfektionszahl unterzuordnen hätte. Aber genau das passiert gerade.